Dienstag, 19. Oktober 2010

Herbstprojekt 2010 Teil 4


Es regnet und die Linde vor meinem Fenster gibt ihre herbstlichen Blätter dem Wind. Die roten Farben werden selten. Nur die Hagebutten glänzen noch prall und resistent. Schlehen sehe ich in diesem Jahr keine.  

Ich bin jetzt gerne im Atelier, malend, lesend, schreibend. Schreibend auch in diesem Medium. Dem Blog. Es ist eine leichte Form des "herausgebens". 

Dann loggt sich meine "Botschaft" ein ins ozeanische Internet. Das Internet verspricht weltweite Öffentlichkeit. Faktisch stimmt das. Doch konkret gibt es paradoxerweise eben durch die flutartigen Veröffentlichungsmöglichkeiten aller und überall, ganz gemütliche und musische Nischen. Meine gar nicht netzgerechten langen Texte, mit  komplexen und schwierigen Themen schützen sich selbst. Denn alle  fixen "User" werden, wo zu viel Präsenz verlangt wird , rasch vorbei-jusen. Wem es aber zusagt, wer sich die Zeit, diese kostbare massenlose Energie, gibt oder nimmt, sei mir willkommen.  


Werknotizen zum Sehen

Seinsperspektive
(eine Skizze)

"Kunst ist ein besonders wesentliches Mittel der menschlichen Erkenntnis"   Rudolf Arnheim, Zauber des Sehens.

Unsere Wahrnehmung ist linearperspektivisch trainiert. Der Lauf der Zeit, die Jahre die wir zwischen Geburt und Tod reisen, werden meist als eindimensionale Achse interpretiert. Als eine gerade Linie mit einem Anfang und einem Ende, auf der wir durch die Zeit reisen.


Lebensbewegung von der Kindheit zum Alter



Doch dieses Modell erweitert sich bei näherer Betrachtung, denn es ist keineswegs so, dass die Lebensreise einer Fahrt auf der Autobahn gleicht und die Vergangenheit nur Ausschnittsweise im Rückspiegel gesehen wird. Wäre es so, dann würde die Vergangenheit immer nur eine relativ kurze Strecke eingesehen. Das weiter Zurückliegende wäre verschwunden, oder würde von der näheren Vergangenheit verdeckt. Doch das entspricht keineswegs den beobachtbaren Tatsachen.
Je länger ein Mensch auf seiner Lebensbahn reist, wir sagen: je älter ein Mensch wird, desto mehr Vergangenheit sammelt sich an.
Ja es scheint so zu sein, dass sich immer mehr Vergangenheit vergegenwärtig, dass die Vergangenheit sich mehr und mehr in die Gegenwart einmischt, oder sogar diese überholt und vorne, in der Zukunft wieder auftaucht. "Die Vergangenheit holt Dich ein". Doch auch das ist eine Vorstellung die sich noch auf einer Gerade bewegt, wie auf einer Straße und wird den Einsichten, die sich beim Betrachten diese Themas auftun, nicht gerecht.

Denn um Einsichten, um Sichtweisen, um Sehen, geht es dabei.


Eine Erweiterung des Blicks, von der Linearperspektive zur: "Seinsperspektive", erscheint folgerichtig.
Wenn eine visuelle Figur gesucht wird, die zutreffend zeigt wie sich Erinnerung und Zeit verhalten dann erscheint die Ellipse geeignet. 

Darin verbinden sich die Gegenätze Kreis und Strahl in einer Figur. Die Ellipse (das Ei) ist, mit der Spirale, eine elementare evolutionäre Chiffre. Das heißt in ihr sind Statik und Dynamik miteinander verbunden. Aus der Verbindung von Kreis und Strahl entstehen  alle weiteren Formen in Natur und Kultur.

Lebensbahn

Die Lebensbahn verläuft, wie in der ersten Zeichnung zu sehen ist, von weißen Geburtspunkt zum schwarzen Todespunkt und schließt eine ganze Figur in sich ab. Rundet sich, vervollständigt sich, wie eine Frucht.

Dabei wird, das ist zu sehen, nicht nur eine Strecke zurückgelegt, sondern eine Figur gebildet, die mehr ist als nur eine lineare Bewegung von A nach B.

Da diese Figur in der Zeit entsteht sollen hier drei markante Phasen auf der Lebensbahn kurz skizziert werden. 



1. Die Kindheit und Jugend

In der ersten Kinheits- und Jugendphase erscheint die Figur als ein offener Bogen. Der gesamte Leensraum ist eine Leere voller potenzieller Möglichkeiten. Lediglich einige markante Punkte leuchten zeichenhaft im Nebel der Zeit. Das Erwaschensein, (Rot) das Alter, (Blau) die das Kind in Gestalt der Eltern und in der Umwelt um sich hat. Und eine kaum wahrnehmbare Mitte die die Bewegung des Bogens bestimmt.
Der offene Bogen kennt noch wenig Rückblick. Seine ganze Kraft ist natürlicherweise in die Vorwärtsentwicklung gelegt, ins Erkunden, Erobern, Erlernen.



2. Das Erwachsensein

In der zweiten großen Etappe wird die Figur zu einer offenen Schale. Der frühe Schwung von Kindheit und Jugend, wird in einer Steigung ausgeglichen. Das könnte auch eine Skatebordbahn sein, auf der Schwung geholt wird um die gegenüberliegende Steigung zu bewältigen.
Der rote Punkt, das Erwachsensein ist erreicht.  
Von hier aus gibt es auch neue und andere Einblicke, eine Rückschau in die eigene Reise und bisherige Lebensspur.

Vom roten Punkt aus kann alles Bisherige überblickt werden. Nicht, und das ist entscheidend dabei, nicht als Rückblick, sondern als Einblick.
Der Blick sieht nicht in die Vergangenheit zurück, sondern in sie hinein.

Die Bewegungen der Vergangenheit sammeln sich in diesem Zeitbecken wie Wasser in einem See. Das Nacheinander wird ein Zugleich und die verschiedenen Zeitetappen weben sich zu einem Ganzen.



3. Das Alter

In der dritten Figur ist der blaue Punkt (das Alter) erreicht.
Von hier aus kann ein Großteil des Gewordenen eingesehen werden.
Die offene Stelle wird kleiner. Die Möglichkeiten von außen reduzieren sich und treffen, wenn sie eintreten, auf ein bereits Gewordenes, einen materiell geworden ZeitStoff.

Entscheidend ist, das sei noch einmal betont, dass hier jeder Rückblick, jede Rückschau in Einblick und sinngebende Introspektion gesteigert werden kann. Das heißt: von jedem Punkt der Gegenwart aus, wird die Vergangenheit von einem andern Blickwinkel  eingesehen - und im Zusammenhang zwischen bestimmen Ereignissen - neu wahrgenommen und deutbar.  Zumindest besteht diese Möglichkeit, wenn das kreative Wahrnehmungspotenzial aktiviert, und nicht nur reproduziert wird, was einmal festgelgt und durch Wiederholung zur unumstößlichen Tatsachenwirklichkeit ernannt wurde. 

Damit eröffnet sich ein fast unerschöpfliches Reservoir an Entdeckungen und Erkundungen. Es enthält Muster und Querverbindungen von höchster Komplexität und auch Einfachheit, in der auch alle Außenwahrnehmungen, in Verbindung mit den Erinnerungen und Erfahrungen,  im innern Feuer des Gehirns  zu frischer Wirklichkeit gebildet werden. Das ist ein kostbarer Prozess am "inneren Arbeitsplatz", und der Motor der bildererzeugenden, bilderlösenden, mit Bildern spielenden Kunst. Und somit, wie Rudolf Arnheim schreibt: "ein besonders wesentliches Mittel der menschlichen Erkenntnis".

Die Vergangenheit ist somit nicht nur das zeitlich Zurückliegende, nicht nur eine Datensammlung, sondern sie verwandelt sich unmerklich von Bewegung in Substanz.
Dabei wird die Mitte um die sich diese Figur formt, erahnbar. Obwohl die Mitte selbst nicht an der Bewegung teilnimmt, sondern immer schon gegeben scheint, sich also weder entwickelt noch ändert.
Die elliptischen Bahn zeigt eine nach vorne gerichtete Hinwendung zum Ursprung, zum Ausgangspunkt, der paradoxerweise in der Zukunft liegt.

Der Mensch auf seiner Lebensbahn geht vorwärts zurück

Gewiss gleicht die individuelle Lebensbahn eines Menschen viel eher einem gordischen Knoten oder einem komplizierten keltischen Ornament als dieser klaren elliptischen Figur. Gewiss ergeben die Beziehungsmuster die sich aus den zahlreichen Verbindungen erzeugen, im inneren der Ellipse ganz eigene unverwechselbare Zeichen. Chiffren von Lebensfiguren die im Gehirn die jeweils indiviuelle und subjektive Wirklichkeit aus den vorhandenen Impulsen und Fakten produzieren.

Trotz der Vielfältigen Lebensbilder die hieraus entstehen, trotz der je einmaligen Biografien, durchlaufen alle Wesen die in der Zeit erscheinen, dieselben Lebensphasen und Stadien.

Der Spielraum und damit der Gestaltungsraum des Subjektiven liegt darin dem komplexen Chaos Ordnung und Gestalt abzugewinnen oder auch einzuschreiben.
Dahinter wirkt wohl ein Gespür, dass in der Summe all dieser Daten ein Ziel verborgen ist, das es zu entdecken, und im Entdecken auszubilden gilt.

Im objektiv Gegebenen, tritt ein limitiertes zeitliches Wesen auf, das versucht in seiner Begrenztheit das Unbegrenzte, in dem es lebt, zu fassen. Natürlich vergeblich. Und doch auch wieder nicht. Denn im Versuch - der Versuchung - dies zu tun, (was ja in bestimmten Religionen schon ein arger Frevel ist), entfaltet und bildet sich das Immante, das dem Leben innewohnende aus, und kann paradoxerweise zu einem Gefäß, einem Ort (einem Herzen) in der begrenzten RaumZeit werden das vom Unbegrenzten, mit Vergnügen und Freude, besucht, oder es mit einem deutschen Wurzelwort treffender zu sagen: "heimgesucht" wird.

Ist das nicht ein gehaltvolles Ziel für den Pfeil und Bogen der Kunst?




Ein Aspekt der sich von diesen skizzenhaften Betrachtungen und Notizen ableitet ist:
die Wiederkehr des Gleichen.
Damit möchte ich mich im nächsten Teil befassen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wunderbar, mit diesem Thema befasse ich mich auch gerade in schreibender Form. Sehr spannend. Ja, die Blätter und die Vögel fliegen gerade durch die Luft, getrieben vom kalten Herbstwind. Die Vögel auf dem Weg nach Süden und die Blätter begeben sich auf den Boden, zufällig hingeworfen vom Wind - die Verwandlung beginnt. Liebe Grüße ULI