Donnerstag, 1. April 2010

Die Friedhofsmauer




Die Friedhofsmauer

31.03.2010 6:16 Uhr

...Wie mir scheint bin ich hier in meiner Straße immer einer der ersten. Ein Frühaufsteher.
In kaum einem Fenster der großen Häuser brennt Licht.
Bin eben doch ein Landmensch, der mit den Rhythmen der Natur schwingt.
Ich wache auf, laufe einmal um den Block, mache mir einen Tee und beginne zu schreiben.

... Gestern wird gegenwärtig.
Es ist ein warmer Nachmittag und die Straßen voll mit Menschen. In den Cafes mit sonnigen Plätzen versammeln sie sich zu genussvoller Erkundung entspannter Zeit. In den Eisdielen lief das Geschäft.
Ich habe kein Bedürfnis nach Kaffe oder Eis, sondern nach Gehen. Gehen inmitten dieser flutenden Menge. Durch Gesichter reisend, wie durch fremde Landschaften, und von ihnen, im vorübergehen, bereist zu werden. Niemand hält an.

Es gibt eine Erfahrung von Alleinsein in dieser Menschenmenge, die jener des Alleinsein in der Natur, in der kein Mensch auftaucht, ganz ähnlich ist. Der einzige Unterschied ist, dass hier die Möglichkeiten der Begegnung selbst das Element des Alleinseins bilden.
Oder ist es doch eher Einsamkeit?

In all den vielen Gesichtern gibt es kein Erkennen. Doch zugleich erzeugt die Gewissheit, sich mit diesen Menschen zur gleichen Zeit in diesem Raum zu befinden, eine unausweichliche, Nähe, die auch Isolation voneinander grell belichtet. Unzählige Wege des kennen lernens, scheint es zu geben, ebenso viele des ausweichens, übersehens und vermeidens.

So hat es ein wenig von Traum und Schlaf, dieses schwimmen durch die Gesichter.
Ich suche nichts, keinen Halt darin, gebe auch keinen. Lasse mich treiben in nachmittäglichen Strom sinnlicher Eindrücke, in den nun schon bekannteren Kreuzberger Gegend. Zum dritten Mal bin ich hier. Schreibe, male, gehe ins Internetcafe, bin noch immer ohne eigenen Online Anschluss und habe es nicht eilig damit.
Ich genieße die Bewegung und trinke, statt eines Kaffees, dieses Geschehen in mich ein, Wandere nicht, wie im Frauenhof, durch freie Natur, sondern durch die menschliche Landschaft und erlebe großes Theater.

Es ist zu spüren, dass viele ihre Einsamkeit spazieren führen und eine Ahnung vom erfüllten All-Ein-Sein bekommen. Milde sind heute die üblichen Feindseeligkeiten gestimmt. Sie wechseln die Fronten und es fehlt nicht viel dann werden sie freundlich. Die Stimmgabel dazu hat jeder in sich, doch es gibt auch Großstimmungen die die Sonne erzeugt, wie heute, da ist es leichter sich einzustimmen.


All-Ein-Sein

So strapaziert dieses Wort „All-Ein-Sein“ auch sein mag, die Sprache ist klar. „All-Ein-Sein“ drückt einen Zustand aus, der nicht sucht, nicht mehr nur im Spannungsraum des Eros kreist oder von der Magie des Sexus geschubst und gezogen wird, sondern - schon wieder so eine billig verpackte Sprachperle: „wunschlos glücklich“ ist.
Solches All-Ein-Sein ist eine Erfahrung der Liebe, die alle Dualitäten und Antagonismen in ein mildes und durchdringendes Licht stellt, so dass sie sich entfalten und nicht mehr rivalisieren müssen. Alles was sich abgesondert und gespalten hat, was sich zersplittert und zerstritten hat ahnt, dass es auch wieder heil und ganz sein kann, und freut sich an Kindern, in denen die Trennungen noch nicht stabiler Bestandteil der Identität geworden sind. Oder scheint das nur so in diesem heutigen Licht?

Es ist ein Zustand der Liebe, die nicht mehr nach etwas Ausschau hält, das in vielen Blicken aufscheint. Ich meine jenes Hoffen auf Glück, dass es einen im Trubel treffe wie ein Blitz. Zugleich sind fast alle Blicke bereits von Blitzen getroffen worden und tragen Narben und Spuren. Sie schützen sich nun mit allerlei Blitzableitern in Gestalt technischer Geräte, Tatoos, Pirsings und Markenfetsichen.
Denn nicht jeder Blitz entzündet Geist und Herz und Körper. Feuer wärmt nicht nur. Es brennt. Brennt ab was brennbar ist.
In dieser warmen Nähe ist auch die Gefahr. Deshalb ist die Freundlichkeit begrenzt, die Sehnsucht tritt zusammen mit der Furcht auf. Die Offenheit hat rasch Abwehr und Sperre bereit, kann jederzeit das Schwert ziehen um Grenzen zu setzen. Fast alle haben unsichtbare Bodygards um sich. Bei den Kindern sind sie sichtbar. Die Mütter und Väter.

So drängt der energiegeladene farbig schillernde Storm menschlicher Energien nach außen in die Atmosphäre der Straße, flutet zwischen den Häusern wie zwischen felsigen Ufern, und verbindet sich mit der warmen Frühlingssonne zu einem belebenden friedlichen Zusammensein mit Menschen aus vielen Kulturen, die mehr oder weniger bereit sind ihre Grenzen zu lüften. Wie Hüte um Gruß. Die Kinder spielen vor wie das geht.

Dann wechsle ich die Richtung. Genug in diesem Strom geschwommen. Ich wandere in eine mir ungekannte Richtung. Sie führt weg von der belebten Bergmannstraße, ein wenig den Berg hoch. Diese Straße ist breit und etwa 300 m einsichtig. Oben auf dem Berg ist ein imposanter ziegelroter Bau zu sehen. Der zieht mich an. Im Vorübergehen tauchen viele Schilder auf mit psychotherapeutisches Praxen. An einen kleinen Bürstenladen, mit exklusivem Angebot, zum Beispiel Kratzbürsten, verweile ich wie im Museum an einem Bild das mich überrascht.
Ich mag diese Art von Läden, wie auch den „Knopf Paul“ in der Zossener. Sie erhalten sich im starken Zeitstrom als Nebenwirbel. Je stärker der Strom in Richtung Technik und Fortschritt lärmt, desto stabiler, attraktiver und sicherer bleiben sie als Gegenwirbel erhalten.
Das gewaltige Backsteingebäude, es zeigen sich gleich zwei auf der Höhe, entpuppte sich als Autozulassungsstelle.


Gegenüber diesem mächtigen Gebäude reihen sich Hütte an Hütte an der Mauer eines großen Friedhofs. Die Mauer ist wenigstens vier Meter hoch. Das große Gebäude und die Mauer sind beide aus Ziegeln errichtet. Die Mauer ist teilweise überputzt. Alte Spuren von Beschriftung sind zu erkennen, die mich interessieren, weil sie von einer verlorenen handwerklichen Fertigkeit des Schriftenmalers zeugen. Mein Vater konnte das gut. Und da er immer Zigarren rauchte, schmeckt die Erinnerung nach seiner Werkstatt.

Die Hütten dagegen sind lieblos und rasch aus Resopal und billigen Baustoffen gemacht und werden von der übergroßen Werbung zusammengehalten. Fast alle sind geschlossen, weil die Zulassungsstelle momentan keine Sprechzeiten hat. Hier können Versicherungen fürs Auto und fürs Leben abgeschlossen werden. Die lärmenden und schäbigen Hütten stehen in einem seltsamen Kontrast zu dem Gebäude, das aus alten Zeiten seinen Stolz bewahrt. Als hätte es Frack und Kragen an und einen Kaiserbart im Gesicht. Es sieht diese neuen Hütten, die kurzlebigen Kioske spekulativer Versprechen nicht. Die ducken sich an der Friedhofsmauer weg. Überall in der Welt siedeln sich solche Hütten an. Überall dort wo Menschen hinkommen, aus welchen Gründen auch immer, passen sie sich den Bedürfnissen am um davon zu profitieren. Hier ist es kein touristischer Krimskrams , sondern es sind Versicherungsversprechen. Auf der Rückseite der Friedhofsmauer? Das wiederum passt.

Kein Mensch ist hier heute unterwegs. Außer mir und ich frage mich warum. Was gibt es hier zu sehen? Was führt mich hier entlang? Warum laufe ich an der langen Friedhofsmauer, die einen großen städtischen Raum mit seinen alten Bäumen in dem die Vögeln trällern ziepen und singen, umgrenzt, entlang? Ich suche einen Eingang.

„Ich liebe nur Dich!“ „Seit Du in meinem Leben bist, weiß ich erst was Leben ist!“ „Ich liebe Dich, nur Dich allein!“ „I love you for ever!“
Die Rückseite der Friedhofswand gibt nicht nur den Hütten Halt, sie ist voll mit Grafittis, Liebesgeständnissen mit dem jeweiligen Namen der unsterblich Angebeten, meist mit dem Herz-Zeichen beglaubigt. Nur ein Ausrutscher hat sich grob über diese Liebesbeweise geschmiert: „ich konsumiere, also bin ich!“ steht da. Ansonsten alles Liebesanzeigen.


Der Friedhof ist groß und die Mauer lang. Kein Eingang. Von dieser Seite kein Eingang in den Friedhof. Diese Seite gehört den Versicherungsslams und der jungen Liebe.

Die Mauer ist zu Ende. Eine andere Straße öffnet sich, zum Südstern. Ein klingender Name: Südstern. Ich komme an einer Kirche vorüber. Es fällt auf, dass an diesem ganz normalen Nachmittag Menschen hineingehen. Ein Hochzeit, ein Konzert? Ich bin neugierig und trete ein. Hier überschreite ich eine unsichtbare Lichtschranke die die Stimmung ändert, wie später beim Betreten des Friedhofs.
Innen herrscht ein anderes Gesetzt. Behutsam schaue ich mich um. Sehe ein Gemälde im Eingangsbereich das nicht, wie in andern Kirchen, historisch wirkt, sondern frisch gemalt ist. Kitschig mag ich es nicht nennen, auch wenn es unter diese ästhetische Kategorie leicht einzuordnen wäre. Es wirk innig, wie ein großes Votivbild, mit vier jungen Männern in Anzügen und Krawatten und darüber die Madonna mit Kind, als schöne junge Mutter, wie sie in den Kaffees der Bergmannstraße oder dem Kinderspielplatz an der Markthalle anzutreffen sind. Es ist nicht für die Kunstkritik gemalt, sondern für dem Maria. Kein Objekt des Marktes sondern des Gemütes.

Ich setzte mich dann leise in eine Bank und bestaune das riesige Christusgemälde im Chor. Mit offenen Armen, der Überwinder. Kein Gekreuzigter. Ist das eine orthodoxe Kirche? Nein, vermutlich nicht. Ich sehe einen Messdiener etwas im Altarraum vorbereiten. Einen Gottesdienst? Ich fürchte, dass mein Handy, meine elektronische Nabelschnur, laut werden könnte und gehe um nicht zu stören. Doch auch weil ich zwar neugierig bin, aber den Voyeur nicht mag.

Es ist eine polnische Kirche, finde ich an den Infotafeln heraus. Gut, dass ich gestern bei John Berger über seinen polnischen Freund und die Polen las, so sah ich diese Menschen differenziert und mit einer freundlichen Neugier.

Als ich die Kirche verließ kam mir eine Familie entgegen. Drei kleine Kinder, die Mutter und dann der Vater als Letzter. Das war auch so ein Bild, wie später jenes mit der Frau und dem Engel im Friedhof. Ein Urbild von Familie. Ich sah den Zusammenhalt bei ihnen, die liebevolle steuernde Sorge, die Gemeinschaft ihrer Heimat, ihre Sprache zu pflegen, im fremden Deutschland. Den Kindern zu zeigen woher sie kommen und wohin sie gehören, obwohl sie hier sind, in der Fremde.

Etwas „roch“ nach sprachloser Gewissheit in einer Hoffnung die nur ein Glaube zu bereiten weiß. Ja, nach frischem Glaube roch diese Kirche.


Friedhof
Der Eingang in den Friedhof ist eine Schwelle. In jedem Friedhof ist er eine Schwelle, doch hier erfahre ich es, noch stärker als in der Kirche, wie eine Lichtschranke, wie ein Security-ceck. Sobald du drin bis, bist du von dem da draußen abgelöst. Alles ist horizontal gewichtet, und nach unten. Wie umgelegte Häuser. nur die Bäume streben in die Höhe. Doch was zu sehr in die Höhe strebt, wie die zu großen Denkmäler, ist im Verdacht eitel zu sein. Sie wirken, vor allem die schon verfallenen, doppelt schmerzlich. Denn vielleicht lebt niemand lebt mehr der sich der „Unvergessenen“ erinnern würde.

Hier finden sich keine, mit heiß-pochendem Blut, in verbotener Aktion spontan gesprayten Botschaften, um sich der Geliebten und der ganzen Welt zu offenbaren, wie auf der Rückseite der Mauer, sondern hier sind es lange erwogene in Stein gemeißelte Worte.
„unvergesslich“ ist das Wort das sich mir am meisten einprägt. Manchmal steht nur dieses eine Wort, Gold auf schwarz poliertem Granit für die Unwiederbringlichen.

Es sind wenig Menschen zu sehen. Eine Frau in Jeans sonnt sich auf einer Bank. Gegenüber, wie ihr zugewandt, ein grüner Grabesengel. Bote einer Welt die wir nicht erkennen. Kaum noch anerkennen. Doch wenn es diese Welt auf der Rückseite dessen gibt was wir Leben nennen, was kümmert es sie ob wir sie für wirklich halten oder nicht?
Wenn ich diesen Gedanken jetzt formuliere, dann spüre ich doch, dass es sie kümmert, sehr wohl bekümmert, wenn wir ihr die Existenz absprechen nur weil wir sie nicht mit den Sinnen erfassen, oder jene Sinne die sie zu erfassen vermögen nicht mehr ausbilden, weil wir sie für Irr-Sinn halten, da sie wissenschaftlich nicht verifizierbar sind.


Ich bleibe stehen, betrachte das Bild wie von einem unbekannten grandiosen Meister. Die Frau die sich auf dem Friedhof sonnt, mit den geschlossen Augen, gegenüber dem Engel. Die Sonne sieht sie und der Engel, und ich.
Ich fotografiere sie - zögernd. Auch hier wird eine Grenze überschritten und ich habe mich zu prüfen ob es ein Voyeur ist der hier knipst.
Es ist eines von jenen Bildern, die tausend Worte ersetzen. So wie auch die leere Gartenbank inmitten von blauen Sternenblümchen, eine Ruhebank unter einer Akazie, inmitten der „ewig Ruhenden“. „hidden art“. Versteckte Kunst, nenne ich das. Sie will entdeckt werden.

Kindergräber

Dann sehe ich seltsame Gräber, nicht nur Gold und Schwarz, sondern bunt, mit Fähnchen. Es sind Kindergräber. Ich gehe durch einen Tränensee zu ihnen hin. Mit Tränen werden hier die Spielsachen gegossen, mit Tränen die Wurzeln unfasslicher Hoffnung gewässert.

Diese Kinder kamen nicht bis ins das Stadium der jungen Liebenden, die ihre Gefühle außen auf der Friedhofswand offenbaren. Und es sind doch so viele. Und noch viel mehr auf dieser Erde.
An vielen dieser bunten Kindergräber bleibe ich stehen. Noch das albernste Spielzeug auf diesen Gräbern wandelt zu einer heiligen Ikone. Manche dieser kleinen letzten Orte sind schon ungepflegt, die Spielsachen überwachsen. Doch sie wirken nicht trostlos auf mich.
Kindergräber im Frühling? Das erzeugt einen Kurzschluss im Stromnetz des Gehirns. Das passt einfach nicht. Auch nicht zu dem strömenden Treiben zwischen den Häusern. Und doch.

Langsam gehe ich weiter, entlang der Mauerinnenseite. Repräsentative Familiengräber mit wuchtiger Präsenz. Wenn ich an die Pyramiden denke, die größten Grabstätten oder die schönste, das Tatsch Mahal, dann wirken diese hier wie ein Echo, ein Nachruf an die Lebenden, während die Grabstätten der Ägypter Häfen, Raumstationen ins Jenseits waren, mit einem enormen Reiseverkehr.
Hier sind die Namen jener, die auch geliebt haben und geliebt wurden, die auch auf den Straßen der Stadt Kaffe tranken, auf Begegnung hofften und Begegnung fürchteten, glücklich waren, gesucht und gefunden haben, verloren gingen und fehlten, im doppelten Sinne. Geliebte einst, die in den Geliebten von heute Weiterschwingen. „Denn die Liebe höret nimmer auf“ Das ist mein Text-Grafitti das ich innen und außen auf die Friedhofswand sprühe.

Als ich durch die unsichtbare Lichtschranke des Friedhofs wieder ins lebendige Treiben zurückging wusste ich, dass ich bei dem Thema: LIEBE EROS UND SEX, das ich die letzten Tage vertieft habe, etwas vergessen hatte. Etwas unbedingt Dazugehörendes.

Im KunstKloster Quartier in der Solmsstraße zeichne ich es auf:

TOT

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Alfred, ein Text wie von einem anderen Stern, wunderbar ich habe Deinen Spaziergang förmlich miterleben können - Danke und Grüße nach Berlin ULI