Montag, 12. April 2010

Die Kunst der Wahrnehmung


"Die Kunst der Wahrnehmung"
Workshop im Sri Aurobindo Center in Berlin

Kern des Workshops ist ein interaktives Spiel mit alltäglichen Dingen aus Natur und Technik.

Jedes Ding, ob aus der Natur oder vom Menschen gemacht, ist das Resultat komplexer Prozesse und Entscheidungen. Mit einem Schneckenhaus sind Spiralgalaxien mit Milliarden von Sternen in Resonanz, und in einer Glühbirne steckt die Erfinderintelligenz von vielen Menschen.

Wir erleben diese Dinge normalerweise eingebunden in ihren Nützlichkeitskontext. Isoliert davon erwachen sie zu überraschenden Wechselwirkungen und entfalten "die Sprache der Dinge".

Durch spielerisches Zusammenstellen werden die Dinge zu Protagonisten, die hochkomplexe kommunikative Zusammenhänge erschließen, und zu Stellvertretern symbolischer Erkenntnis werden können.

Das Spiel wird, in mehreren Schritten, nonverbal gespielt. Wahrnehmung wir als schöpferische Kraft erlebt.

 


Hier noch ergänzend meine vollständige Beschreibung des Spiels die in dem Buch, "Die Kunst der Wahrnehmung", Die Graue Edition, 2003, Herausgeber: Michael Hauskeller, veröffentlicht wurde.


Alfred Bast


VON DER ENTDECKUNG DES OFFEN SICHTLICHEN
oder die Sprache der Dinge


Der goldene König sagte zum Manne: Wie viel Geheimnisse weiß du? – Drei, versetzte der Alte. – Welches ist das wichtigste? fragte der silberne König. – Das offenbare, versetzte der Alte.

das Märchen J.W.v.Goethe


DAS SPIEL


Im Atelier des Zeichners sammelt sich - vom Ozean des Unscheinbaren - Standgut: Steine, Blätter, Blüten (auch die welken), Stöcke, Flechten, Federn, Samenkapseln und Früchte. Sie wurden und werden gezeichnet und als temporäre Installationen zu Reihen und Spiralen, zu Ringen und Figuren gelegt.
Aus ihrem gewohnten Kontext gelöst, stehen die Dinge für neue Kombinationen zu Verfügung. Wie Worte die sich aus alten Texten lösten und sich auf den Weg machten und neue Verbindungen einzugehen. 

Nein! die Gegenstände werden dabei nicht mit symbolisch-begrifflicher Festlegung befrachtet, unter dessen Gewicht sie absaufen ins Banale, sondern sie bleiben immer was sie sind: Stein, Ast, Knospe, Frucht: Phänomene des Seins. 
Doch ist es möglich sie durch spielerische Aufmerksamkeit zum Glühen zu bringen, bis sie Funken schlagen mit denen die intuitive Wahrnehmung entzündet und die Imagination entfacht wird. 
So entstand das Spiel, das sich auch als ein Instrument erweist, um jenes ständige Projizieren, das meist unbewusst und unablässig am Werk ist, ins Wahrnehmbare und damit Gestaltbare zu heben: federleicht, frech und mühelos, ohne schweres tiefschürfendes Gerät.


Der erste Schritt

Wahrnehmung der Atmosphären
Auf dem weißen Tisch liegt ein weißes Ei. 
Die Menschen um den Tisch sind konzentriert. Es wird nicht gesprochen. Nonverbale Kommunikation ist die verabredete Spielregel.
Gelingt es die Aufmerksamkeit auf das Ei zu richten und zugleich wahrzunehmen, was dieses an Empfindungen, Assoziationen, Erinnerungen auslöst? Das ist die Aufgabe, die Forderung.
Dann, nach einer gewissen Zeit legt der Spielleiter einen anderen Gegenstand neben das Ei: einen kleinen Löffel. Was ändert sich? Welche Interpretationen tauchen auf? Nach einer Weile (wie lange das dauert muss abgespürt werden) wählt er ein anderes Objekt aus den vielen, die auf dem Tisch liegen. Er nimmt den Löffel weg und legt eine Feder neben das Ei. Was ändert sich? Ändert sich das Ei? Doch das bleibt mit sich identisch und doch ist alles anders. Noch ein Wechsel: die Feder wird durch den schweren Hammer ersetzt. Der liegt jetzt neben dem Ei. Hammer und Ei: was für ein Paar! Das Ei wirkt plötzlich bedroht. Alle Teilnehmer empfinden das. Es ist nicht nötig das auszusprechen. 


Marionettentheater.
Die Wirkung gleicht dem in einem guten Marionettentheater. Da ist der Spieler und die Holzpuppe und die Fäden: alles zu sehen. Und doch verwandelt sich die Puppe in ein Wesen. Alle merken, dass der Spieler spricht und nicht die Puppe, dass seine Hand das Kreuz mit den Fäden bewegt. Und doch ist es die Puppe von der alles ausgeht.  
Wenn die Illusion nackt ist, ohne Tarnung, und damit ohne Täuschungsabsicht,(und deshalb keine Illusion mehr), dann transformiert sich die Wirklichkeit um in Poesie. Der Zuschauer wird dabei nicht überstülpt mit Effekten, wird nicht von Scheinwelten eingesogen (obwohl auch das seinen Reiz haben mag) sondern, ist selbst schöpferisch. Er erschafft mit, durch seine eigene Vorstellungskraft, was er erlebt. 

So wie die Puppe bleibt auch das Ei auf dem Tisch immer mit sich identisch. Und doch ändert es sich durch bloße Nachbarschaft mit einem andern Gegenstand, löst bei den Teilnehmenden jeweils ganz verschiedene Assoziationen und Projektionen aus. 
Die Konstellation, die sich aus den beiden Dingen ergibt, erzeugt eine Atmosphäre. Es ist als wären beide plötzlich in ein farbiges Licht getaucht, das durch ihr Zusammensein aufscheint und in dem sie baden. Sie bilden zusammen eine spezifische „atmosphärische Frequenz“. 

Karikatur
Eine Karikatur zur Anschauung: Da sitzt zum Beispiel allein, im Wartezimmer seines Arztes der sensible Herr K. empfindlich wie ein Ei, und herein kommt sein Kollege, wie immer – trotz Schnupfen – hammerhart. Herr K. sieht eben in ihm die Ursache seines Leidens. Was tun, außer zerbrechlich grinsen? Jovial klopft ihm da der Deftige auf seine empfindliche Schale: die knirscht verdächtig, was den gutmütigen Grobian wiederum zurückstößt, denn mit dieser Mimosenhaftigkeit kann er nichts anfangen.

vom Projizieren
„Jede Projektion wird, zur Suggestion die das zu erzeugen sucht was sie zu sehen meint“.
Die Partner fixieren sich gegenseitig. Was sonst? (Die Einigenbeteiligung ist nicht ohne weiteres zu erkennen und für die Atmosphäre, die als unsichtbares Wirkungsfeld entsteht, ist eine bloß objektfixierte Wahrnehmung nicht empfänglich). Die gut trainierten Urteilshebel packen sofort zu: Gut-Schlecht-Harmlos. Nützlich-Schädlich-Egal. Angenehm-Abstoßend-Gleichgültig. Angstmachend-Hilfreich-Belanglos. Das Interpretationsmuster greift, ohne dass sie sich als Mit-Urheber erkennen. Ohne dass sie erkennen könnten, dass sie ihre Stimmung, für die sie den andern (insbesondere bei negativerer Bewertung) verantwortlich machen, selber miterzeugen und aufrechterhalten
(Dann geht oft verquere gegenseitige Änderungsschlammassel los. Da soll der Empfindliche - der doch nur in der Gegenwart des Hammers empfindlich ist - robust und stabil werden. Oder der Hammer andererseits, dieser immer-deftige- irgendwann übersatt an sich selbst - trainiert sich im Verzärteln und meint damit vielleicht sogar: ganz werden. Doch das ergibt schließlich nur höchstempfindliche Stahl-Eier, Bomben mit polierter Oberfläche und andererseits Softies mit antrainierten Zonen aus feinen Manieren, die ungeduldig drauf warten bis sie endlich zuschlagen können wie es für sie stimmt. Aus solchen Entfremdungen entstehen nur Wolperdinger, absurde, im harmlosesten Falle komische Figuren)

An den einfachen sichtbaren Dingen im Spiel wird ein komplexes unsichtbares Geschehen, erkannt. Wenn Zwei zusammenkommen entstehen Konstellationen und damit blitzschnell: Stimmungen, Klimas, „atmosphärische Frequenzen“. Die Frequenzen treten visuell nicht in Erscheinung, werden nicht gesehen, doch ihre Wirkung entscheidet, wie das Sichtbare gelesen wird.

Da die gewohnte Wahrnehmung im Ursache-Wirkung-Sehen geübt ist und darin die beurteilenden Emotionen nisten, (wie in der Bauchtasche der Kängeruhmutter das Kind), wird die Situation rascher bewertet, und damit das Klima erzeugt, als ein Gedanke ge-dacht werden kann. 
Das ist die farbige (oder zersplitterte) Brille durch die jeweils wahrgenommen wird. Doch nicht nur das. Diese Sichtweise wirkt suggestiv, manchmal mit hypnotischer Macht, die alle andern Aspekte lähmt und in die Latenz zurückdrängt, oder auch fördert, je nach der Art der atmosphärischen Frequenz. Im Umfeld von Autoritäten, vermeintlichen oder wirklichen, lässt sich das bestens studieren. Jede Projektion wird, wenn sie als solche nicht erkannt wird, zur Suggestion die das zu erzeugen sucht was sie zu sehen meint.


der zweite Schritt
Paare
Die Zehn, fünfzehn Frauen und Männer bringen sich ein. Sie legen nun auch etwas von sich selbst zu den andern Dingen auf dem Tisch: eine Uhr, eine Handy, einen Ring, die Scheckkarte, was auch immer. Sie werden nun gebeten selbst ein Paar, mit den vorhandnen Dingen, zu legen, das für sei harmonisch ist. 
Das Spektrum ist groß. Da liegt ein verschmutzter Arbeitshandschuh, der Dollarschein, die Rose, einige unterschiedliche Edelsteine, Kronenkorken, ein Herz aus rotem Schaumstoff, das schmale gelbe Bändchen mit Rilkegedichten, das zerbrochene Sektglas, Batterien, Schneckenhäuser, Stofftiere und Plastikautos. Kurz: künstliche Sachen und natürliche Dinge.  
Allen Gegenständen ist gemeinsam, dass sie Produkte und Ergebnisse von oft langen und komplexen Prozessen sind: Wachstumsprozessen bei Naturobjekten, rationalen Entscheidungsprozessen bei den hergestellten Dingen. In einem simplen Plastiklöffel etwa, stecken detaillierte Kenntnisse über Material, Stabilität und Form. Das „Wegwerfprodukt“ ging durch viele Entscheidungen bis ein Exemplar hier auf dem Tisch gelandet ist. 
Dieser gesamte Entscheidungsprozess ist in den Dingen gespeichert wie in einem Akku. Das bestimmt seine atmosphärische Frequenz. (Wie verschieden die sein kann wird deutlich, wenn neben diesem dünnen weißen Platiklöffelchen ein gediegener silbernen Kaffeelöffel liegt.) 

Manche Mitspieler legen als harmonisches Paar zwei technische Dinge zusammen. Arbeitshandschuh und Hammer zum Beispiel. Jemand anders wählt Natur: Stein und Feder, und noch eine dritte Wahl: Rilkebüchlein und rotes Herz aus Schaumstoff. 
Vielfältig sind die Variationsmöglichkeiten. Manche legen zweimal- dreimal. Immer wieder kommen neue Ideen, angeregt durch die Wahl der Andern.

Dann die Aufforderung des Spielleiters: „legen Sie bitte ein disharmonisches Paar, eines mit möglichst wenig Gemeinsamkeiten“.
Das ist nicht so einfach wie es zunächst scheint. Ist die Batterie neben dem Ei disharmonisch? Es sind doch beides Speicher! Vielleicht Handy und Adlerfeder? Nichts wird kommentiert. Die Kommunikation zwischen den Teilnehmern definiert sich allein über das Handeln mit den Dingen, die immer mehr zu Trägern von wechselnden Bedeutungen werden. Die Sinne sind hellwach.


Der dritte Schritt
Geschichten

In einem weiteren Schritt wir noch ein Gegenstand hinzugenommen. Drei Dinge befinden sich jetzt im quadratischen Spielfeld. Wer will kann eines austauschen. Die Duale Spannung ist aufgelöst, das atmosphärische Feld offener. Jedes Ding kann sich nun nach zwei Seiten hin wirken, sich durch zwei Gegenüber definieren. Dadurch entstehen sofort Geschichten. Da ist sofort was los, wie bei einem Paar das sein erstes Kind bekommt. 
Die Anregung wird angenommen. Intuitiv springen die Funken von einem zum andern und erzeugen eine dichte prickelnde Spannung im Raum. Manchmal gibt jemand durch die Wahl eines Dinges dem Geschehnen eine so überraschende Wendung gibt, dass alle hell auflachen. (noverbal!)

Die Protagonisten
In dem Spielquadrat liegt der schmutzige Arbeitshandschuh, das rote Schaumstoffherz und ein Zigarettenstummel. Sie sind die Protagonisten eines Drehbuches, eines ganzen Romans, dessen Möglichkeiten in dieser Konstellation vibrieren. Wird der Arbeitshandschuh ausgetauscht, etwa mit dem zerbrochenen Sektglas, dann ändert sich sofort die ganze Geschichte. Zerbrochenes Sektglas–Zigarettenstummel–Schaumstoffherz. Die Tristesse hält Einzug, erzählt wortlos von überspannter und enttäuschter Beziehung. Und doch- immer wieder ist das zu betonen - bleiben es die vertrauten Dinge aus dem Alltag. Und wohl auch deshalb, weil sie so bekannt sind wie Stars, (und vielleicht auch so begabt) können sie die verschiedenen Rollen mühelos einnehmen, ohne sich dabei zu ändern. 
Schon nimmt jemand das Schaumstoffherz heraus und legt den Hammer dazu. Hammer - Kippe-kaputtes Sektglas. Da ist keine depressive Stimmung mehr wie zuvor, sondern pure Aggression, Wut gegen was auch immer: den übermäßigen Alkohol, das Rauchen, oder ruft die das noch etwas ganz anders wach? 


Die weiteren Schritte
Komposition, die Architektur der Kräfte.
In einem nächsten Schritt, (nicht alle möglichen Schritte sollen beschrieben werden, denn der Ablauf nach den ersten vier Stufen wird aus der realen Situation bestimmt ) werden die Teilnehmer gebeten, nachdem sie durch das Spiel mit allen Dingen die zur Verfügung stehen vertraut sind, ihren Favoriten zu wählen und in das Spielfeld zu legen.
Da befinden sich dann 10 bis 15 Dinge, wild durcheinander im Spielfeld.
Die Aufgabe ist nun, diese in eine Ordnungsfigur im Raum zu bringen. Es gilt, eine Komposition mit allen Elementen, die nun nicht mehr ausgetauscht werden können, zu finden. So, dass alle Beteiligten damit einverstanden sind, also niemand mehr ändernd eingreift. Das ist spannend, kann dauern und gelingt nicht immer.

In dieser Spielstufe wird erfahren was Komposition ist. Da sind alle Teile und die Grundfläche vorgegeben, (ähnlich der Situation, wenn jemand eine neue Arbeit beginnt und sich auf die Bedingungen die nicht zu ändern sind, einstellen muss). Da geht es dann um den intelligenten und kreativen Umgang mit den vorhandenen Qualitäten, die auf dem Tisch, in Gestalt von völlig unterschiedlichen Dingen, repräsentiert sind. Es geht um eine Architektur der Kräfte.

Das Ganze wirkt auf die Teile zurück

Hier wird erlebt, dass die unterschiedlichsten Kräfte, - repräsentiert durch die Dinge - in einer Komposition so angeordnet werden können, dass jedes Ding seinem Platz findet. Wenn es stimmt, dann erzeugen die Teile gemeinsam ein Ganzes in dem sie zugleich notwendig und integriert sind. Die alte Wahrheit wird dabei erlebbar: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aber nicht nur das. Das Ganze wirkt auch auf die Teile zurück, diesen Orientierung und Sinn gebend. Gelingt das, dann steht die Gestaltung unter Strom, dann ist wirkt ein unsichtbaren Kreislauf, der alle Teile erfasst und durchpulst
Das erweist sich nicht nur optisch visuell als stimmige Anordnung, sondern mehr noch, als eine atmosphärische Wirkung, die von einer solchen gelungenen Zusammenstellung ausgeht. 

Das Spiel kann, je nach Konzentration, bis zu zwei Stunden dauern. Auch anschließend wird darüber nicht gesprochen. Das gehört zur Abmachung, denn nur so wirken diese Bilder in den tiefen Schichten des innern Schauens weiter und werden nicht durch zu frühe verbale Festlegungen gestoppt. 


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Alfred, auf verschlungenen Wegen im Internet bin ich Deinem Blog begegnet. Wie faszinierend Du bei diesem Spiel das pratitya samutpada des Buddha - die wechselseitige Verbundenheit alles Seienden - ins Visuelle überführst, unter Umgehung des Verbalen, das zu neuen Konzepten führen würde. Kennst Du die japanische Künstlergruppe Monoha? Als ich in Rom lebte, sah ich eine Ausstellung von ihnen mit dem Titel "La scuola delle cose", die Schule der Dinge. Formal arbeiten sie ganz anders als Du, aber im selben Geist, bewegt von denselben Fragen - Zen-Geist, ohne dass dieser Begriff strapaziert werden müsste. Herzliche Grüße von Margrit